Als Nationalgenre übt der Fado in Portugal eine solche Gravitation aus, dass es schwierig ist, sich konsequent von ihm zu lösen. Cristina Branco hat es geschafft, genügend Fliehkraft zu entwickeln, indem sie sich mit der Indierock-Szene zusammengeschlossen hat. Kurioserweise ist Menina (VÖ 6.1.2017) gerade dadurch ihr reifstes Album geworden. In Köln konnte ich Cristina Branco zu ihrem neuen Werk befragen.
Auf Ihrem letzten Album Alegria sind Sie in die Schuhe von verschiedenen Persönlichkeiten geschlüpft. Auf Menina geht es weiter mit diesen Charakterporträts. Wie unterscheiden sich die beiden Alben?
Auf Alegria habe ich zwölf verschiedene Charaktere geschaffen, die ich verschiedenen Autoren gegeben habe. Die Charaktere waren nicht zwangsläufig Frauen, auch ein Clown war zum Beispiel dabei. Menina handelt aber ausschließlich von Frauen, ihrer Zerbrechlichkeit und ihrer Stärke. Im Portugiesischen können Frauen vom Moment ihrer Geburt bis zu ihrem Tod „menina“ genannt werden. Es ist das kleine Mädchen, die Tante, die eine alte Jungfer geblieben ist, die Witwe, die lange Beziehungsgeschichten hinter sich hat, auch die Prostituierte. Nur die verheiratete Frau heißt „senhora“. „Menina“ ist ein Kosewort, um Weiblichkeit zu feiern. Es wird auch verwendet, wenn man das Alter einer Frau nicht einschätzen kann. Ein blödes Beispiel: Als mir neulich ein Postbote ein Päckchen brachte, fragt er mich: „Sind Sie Menina Cristina Branco?“ „Und ich sagte: „Ja, das bin ich!“! Da war ich natürlich geschmeichelt. Ich fragte für dieses Album sehr junge Autoren an, sie kommen aus der portugiesischen Indierock-Szene. Ich bat sie, über mich zu schreiben. Sie sollten sich darauf konzentrieren, was ich heute bin, was ich bis jetzt getan habe, und versuchen, etwas über die Voraussetzungen zu schreiben, was es bedeutet, eine Frau zu sei. Eine Sichtweise junger Leute darauf. Und es geht nicht nur um mich: Es geht um ihre Mütter, ihre Geliebten, ihre Schwestern.
Sie haben so viele Auotren versammelt, von der Band Linda Martini über Deolinda bis Diabo da Cruz – bei uns in Deutschland sind die meisten von ihnen völlig unbekannt. Wollten Sie ihnen so auch eine internationale Plattform geben?
Oh nein, die brauchen mich nicht. Ich habe diese Autorität nicht, und ich will sie auch nicht. Es soll nicht der Eindruck entstehen, dass ich ihnen eine Möglichkeit geben will, das Gegenteil ist der Fall. Sie besitzen die Vergangnheit und haben die Zukunft in ihrer Hand. Die Frische des Albums gründet darin, dass diese jungen Autoren so arbeitsbereit, so voll von Leben und Licht sind, und eine Antenne dafür haben, was gerade geschieht. Sie sind die Träger der Botschaften. In einer bestimmten Art und Weise sind sie populär, sie verkörpern die neue Generation.
Unter welchen Umständen arbeiten sie in einem wirtschaftlich gebeutelten Portugal?
Natürlich müssen sie kämpfen. Aber sie sind in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass sie nicht mehr brauchen, als sie haben, sie haben gelernt, mit wenigen Möglichkeiten auszukommen. Das macht sie so groß und so reich. Darum glaube ich an sie. Sie sind die Essenz dessen, was Portugal jetzt gerade ist. Sie haben einen solchen Willen, ihre Botschaft zu transportieren, dass sie mit sehr wenig immer stärker geworden sind. Das kann eine Lektion für uns alle sein. Wir brauchen nicht viel. Und sie sind die glücklichsten Menschen. Mit der Zeit habe ich das gelernt, aber ich bin nicht in diesem Geist aufgewachsen. Ich bin 1972 geboren, kurz vor der Nelkenrevolution von 1974. Als die Revolution da war, sagten mir meine Eltern: „Du bist frei, du kannst alles haben, was du willst.“ Plötzlich florierte die Gesellschaft und die Wirtschaft, wir wurden dazu erzogen, Besitz zu haben statt Werte und Liebe. Schließlich sind wir dazu zurückgekehrt und ich habe gelernt, mich von der materiellen Bürde im Leben zu befreien. Ich will hingehen, wohin immer ich will, ohne die ganze Zeit daran zu denken: Oh, ich muss meine Gemälde, meine Bücher mitnehmen. Obwohl ich viele habe, ich weiß nicht, wie ich sie und die Platten loswerden soll. Aber diese Jungen, die haben diese Leichtigkeit, sie sind frei, kennen keine Beschränkungen. Das ist die wichtigste Lektion, die sie mich lehren.
Sie begannen vor zwanzig Jahren als Fadista, haben auf Ihrem Dutzend Platten dann aber immer Ausflüge gemacht. Sie haben Joni Mitchell gecovert, die brasilianischen Klassiker gesungen, sind in den Tango hineingegangen. Ist Menina das Album, das am weitesten vom Fado weg geht?
Ja, dieses Album geht sehr, sehr weit weg vom Fado, obwohl es einen Fado enthält. Die Leute fragen mich: „Wenn du das tun willst, warum hast du dann immer noch einen Fado drauf?“ Nun, zunächst ist dieses Album eine Durchgangsstufe, ein Übergang. Ich weiß noch nicht, was danach passiert. Fado wird immer ein Teil meiner Geschichte sein. Ich begann als Fadosängerin, das stimmt, aber nicht aus Überzeugung. Denn Amália war meine Ikone, auf sie beziehe ich mich, nicht weil sie Fadista war, sondern weil sie diese Stimme hatte. Deshalb haben die Leute mich sofort mit Fado in Verbindung gebracht, und ich habe das akzeptiert, auch wenn es in meinem Leben nicht immer aufrichtig war, mich als Fadista zu bezeichnen. Denn ich hatte nicht die Tiefe, die es braucht, um eine Fadosängerin zu sein. Auch wenn auf meiner nächsten Platte kein Fado mehr drauf sein wird, wird er im Hintergrund sein, wie ein Schatten, der mir folgt. Als ich auf den ersten Alben traditionelle Fados sang, fühlte ich sie nicht in dem Maße, in dem ich sie nun fühle. Fado war nur ein Wort. Ich dachte, ich wäre eine Fadista, war aber keine. Jetzt, wo ich immer weiter weggehe vom Fado, bin ich viel eher eine. Sehr interessant!
Musikalisch gesehen haben Sie das klassische Line-Up beibehalten, plus Klavier…
Tatsächlich war das Klavier das erste Begleitinstrument des Fado, beziehungsweise das Cembalo. Wenn ich also ein Piano einsetze, dann kehre ich eigentlich zur ursprünglichen Form zurück. Das Piano habe ich schon auf Ulysses verwendet, eines meiner ersten Alben. Diese Band, die ich seit Alegria habe, mit Piano, Kontrabass und guitarra portuguesa ist alles, was ich brauche, um Fado und andere Sachen zu machen.
Die Indierock-Attitüde kommt auf dem Album immer durch, man spürt, dass es kein Fado ist.
Und ein gewisser Kitsch. Ich liebe das, wenn das Keyboard dabei ist. So kitschig! Es ist das Wesen von uns. Es bezieht sich direkt auf den Look des Covers, der sagt: So bin ich eben! Na und? Das ist das, was ich tun will. Ich mag keine Ketten oder stilistische Grenzen. Lass mich so sein, wie ich bin. Wir Portugiesen sind sehr classy, aber wir mögen es auch, unseren Fuß auf ein anderes Terrain zu setzen.
Und in dem einzigen Fado, den Sie ausgewählt haben, ist die Introduktion mit Bass, es klingt sehr jazzig…
Die Sache ist die: Meine Musiker sind Jazzer. Selbst wenn sie es nicht wollen, klingt es nach Jazz. Der Einfluss kommt also ganz natürlich in meine Musik. Wir haben uns entschieden, das nur mit Stimme und Bass zu machen, um eine gewisse Tiefe für das zu kreieren, was die Stimme sagt. Amália hat „Ai, Que Pena De Mim“ selbst geschrieben, und es ist eine unglaublich empfindsame Reflexion der weiblichen Psyche. Es ist so zwiegesichtig, eine Unzufriedenheit mit dem Leben, die typisch weibliche Frage: „Warum bin ich so?“ Ich wollte diese Einleitung, um die Stimmung festzusetzen, und dann den Übergang zum traditionellen Fado.
Wie hat sich Ihre Stimme über die Jahre verändert, sei es natürlich oder absichtlich? In „A Meio Do Caminho“ zum Beispiel gehen Sie in sehr dramatische, tiefe Register.
Sie hat sich sowohl in natürlicher als auch in beabsichtigter Weise verändert. Früher hat man mich geführt und ich störte mich nicht daran. Sie wollten, dass ich eine bestimmte Art von Sängerin sei, und ich habe ja diese klare Stimme. Sie wollten immer diese Klarheit hören. Aber auf diesem Album wollte ich mehr zeigen. Wenn der Text tief geht, dann sollte ich auch mit der Stimme tiefer gehen. Denn ich kann auch in tiefere Register gehen oder höhere, wenn ich will. Es gibt Stellen auf dem Album, wo ich mit der Stimme an das Maximum des Ausdrucks gehe, und dann wiederum welche, wo ich ganz zart klage. Auf diesem Album geht es um mich, um das Ausloten meiner Kapazitäten, auch das Erstaunen darüber. Das Schönste an den Aufnahmen war, dass ich mein Instrument jetzt so einsetzen konnte, wie ich es wollte. Ich war so glücklich darüber, dass die Stimme schon da war, ich musste ihr nur Flügel geben. Das war ein wunderbarer Moment der Wahrheit und Freiheit.
Viele der Texte zeigen Frauen in ihrer Verletzlichkeit und Hoffnungslosigkeit.
Ja, weil das menschlich ist, nicht nur weiblich. Natürlich gehört es auch zum Frausein. Ich habe nie Angst gehabt, diese Zerbrechlichkeit zu zeigen, sie ist ein Teil des Lebens. Es ist seltsam, die meisten Lieder handeln von der Liebe, von Leidenschaft, Eifersucht, also von Gefühlen. Und das ist OK. Zu jedem Lied habe ich einen Einführungstext über mich geschrieben, in dem drin steht, dass ich 44 Jahre alt bin, ein paar weiße Haare habe, zwei Kinder, einen Hund, eine Katze…und am Schluss schrieb ich: Na und? Und diese Texte handeln davon: Von einer Frau in dieser Phase ihres Lebens, mit dem, was ihr zur Verfügung steht. Es ist OK, wenn ihr das nicht mögt, aber es ist toll, wenn ihr’s tut. So bin ich, und darüber sollten meine Autoren schreiben, wie es ist, eine Frau zu sein, ohne irgendwelche Probleme damit zu haben. Das sollte die Botschaft sein, die von einer Frau und einer Feministin ausgeht. Nicht von einer orthodoxen Feministin, so eine bin ich nicht. Ich bin eine freie Feministin. Wir sollten alle gleich sein als menschliche Wesen. Manchmal sind wir etwas empfindsamer, zerbrechlicher, aber das ist großartig. Diese Musikergeneration ist mit diesem Bewusstsein aufgewachsen, auch weil sie als Künstler feinere Antennen haben als die Normalsterblichen. Sie sagten zu mir: „Meine Mutter hat mich dazu erzogen, Frauen zu respektieren.“ Sie sind also näher an den Frauen dran als ich dachte. Jeder Mann hat eine weibliche Seite, und das ist natürlich, und wir haben auch eine maskuline Seite. Was ist falsch daran, wir sind bad boys und good girls und umgekehrt. Feministisch heißt für mich, zulassen, dass wir alle gleich sind, immer.
In „Boatos“, zu deutsch: „Gerüchte“, porträtieren sie einen Vamp, der eigentlich keiner ist.
Cristina Branco: „Boatos“
Quelle: vevo
Für mich geht die Geschichte tiefer. Es geht um eine junge, attraktive Frau, die in einem kleinen Ort ankommt. Alle Männer schauen ihr nach. Jeder denkt, dass sie die Geliebte des Richters, des Priesters, des Arztes ist. Aber sie ist es nicht, sie lebt einfach ihr Leben. Das Problem ist, dass andere Frauen diese Gerüchte streuen. Ich bin davon überzeugt, dass die schlimmsten Feinde der Frauen die Frauen selbst sind. Denn diese Gerüchte kommen von Frauen. Sie haben die Tendenz, den Machismo in einer Gesellschaft und die männliche Dominanz zu schützen. Stattdessen könnten sie einfach ihre Schönheit respektieren und dass ihr die Männer nachschauen, das heißt nicht, dass sie irgendjemandes Liebste ist. Am Ende des Textes sagt sie: Ich lebe einfach mein Leben, lasst mich. Ich habe nur ein kleines Apartment, nicht eine große Wohnung. Sie sagen, ich bekomme Blumen und Schmuck vom Richter, nein, das stimmt nicht. Sie ist kein Vamp! Wenn sie reden wollen, lass sie reden! Diese Geschichten gibt es in jeder Kultur.
„As Vezes Me Dou Pro Mim“ hört sich für mich an wie eine Klage einer Frau darüber, dass sie keinen Ehemann gefunden hat und deshalb auch Angriffsziel von Gerede ist. Habe ich das richtig verstanden?
Der Ehemann macht ihr keine Sorgen. Sorgen macht ihr der Kampf um ein eigenes Leben. Das ist auch keine speziell portugiesische Geschichte, sie ist universell. Diese Frau lebt noch bei ihren Eltern. Und das passiert mehr und mehr. Der Grund dafür ist nicht, dass sie niemanden hätte, mit dem sie leben kann, sondern dass sie wahrscheinlich keinen Job hat. Das ist ein großes Problem heute. Je weiter wir uns entwickeln, desto länger wohnen wir bei unseren Eltern. Ich habe Kollegen in meinem Alter, die noch bei ihren Eltern leben, weil sie nicht die Mittel hatten, sie zu verlassen. Und das verändert dein Wesen, wenn du kein eigenes Leben hast, dir keine eigene Existenz aufbauen, allein bestehen, dich ernähren kannst. Das ist wichtig für das menschliche Wesen. Und das verändert auch die Gesellschaft.
In „Alvorada“ zitieren Sie am Schluss Elton John. Gibt es da einen geheimen Bezug?
Wir probten es und hatten Spaß damit. Dann kamen die Schlussnoten und sie waren sehr ähnlich zu „Goodbye Yellow Brick Road“, und wir dachten uns einfach: Machen wir’s! Der Autor, Luís Severo, ist zwanzig Jahre alt, und er schreibt wie ein reifer Mann. Er ist einfach nicht in seiner Zeit, selbst wie er sich anzieht ist völlig unzeitgemäß. Er ist ein großer Charakter. Ich entschied mich, dass die Musik das widerspiegeln sollte. Im Text geht es um ein Paar, das im Bett bleibt. Sie sollten eigentlich aufstehen, aber sie entscheiden sich, einfach mit dem weiterzumachen, was sie gerade tun.
Einer meiner Lieblingssongs ist „Deus À“ – aber die Lyrics bleiben mir ein Rätsel…
Mir geht es ähnlich! Der Autor Luís Gomes ist Kapverdianer, und ich glaube, als er diesen Song geschrieben hat, war er weit weg von dieser Welt, er hatte einen Joint geraucht oder so was. Wir hatten Schwierigkeiten, die Musik zusammenzufügen. Wir mussten in die gleiche Stimmung kommen, das war nicht einfach. Ich wollte die Musik unbedingt auf dem Album haben, sie ist transzendental. Wir haben es dann um zwei Uhr morgens aufgenommen, wir waren sehr müde, aber es hat funktioniert. Es ist fast wie ein Mantra. An einem bestimmten Punkt sagt er, dass Gott wahrscheinlich eine Frau ist. Er ist einer der taletiertesten Musiker derzeit und wird in den kommenden Jahren wichtig sein.
Auch Kalaf Epalanga, der für Sie „Luto Mudo“ geschrieben hat, stammt aus einem afro-portugiesischen Umfeld. Werden Beiträge dieser afrikanischen Autoren wichtiger in der portugiesischen Musikszene?
Es ist bekannt, dass afrikanische Autoren einen enormen Einfluss auf die portugiesische Musik haben, auch im Fado. Es wird immer klarer. Früher war es versteckt, der Einfluss war da, aber man musste sich sehr darauf konzentrieren, um ihn zu entdecken. Jetzt ist dieser Einfluss akzeptiert und bereichert die portugiesische Musik. Kalaf Epalanga habe ich ausgewählt, weil er sehr intelligent ist und ein großartiger Autor. Der Text handelt von einem der obskursten „Fadohäuser“, es geht um Liebe und Hass, Eifersucht, Leidenschaft, Tod. Das einzufangen, darum habe ich ihn gebeten. Die Musik ist von Ricardo Cruz, er hat es in einer dunklen Tonalität der kapverdischen Musik geschrieben, fast wie eine Klage. Der Titel heißt auch „Stumme Klage“.
Wie wird es in der Zukunft für Sie weitergehen? Noch weiter weg vom Fado? In den Pop?
Nein. Ich wollte gleich zum nächsten Album übergehen, und es ähnlich anlegen, wieder mit weiteren jungen Autoren. Ich bekomme schon Material, im April wird alles beisammen sein. Für dieses Album habe ich noch Themen vorgegeben, jetzt wird es andersherum sein: Ich werde mir alles anschauen nd dann entscheiden, um was es in dem Album gehen wird. Das wird eine Überraschung sein. Ich konzentriere mich immer auf die erste Musik des Abums. Der Rhythmus, die Energie, die Melancholie des Textes. Und es wird wieder Independent-Flair haben
Es könnte Senhora heißen, nach Menina.
Wer weiß!
© Stefan Franzen
Cristina Branco: „As Vezes me Dou Pro Mim“
Quelle: vevo
Cristina Branco live:
28.1. Zug (CH), Casino
29.1. Karlsruhe. Tollhaus
30.1. Basel (CH), St. Martinskirche
18.3. Berlin, Aopstel-Paulus-Kirche